Politischer Aufruf zur Solidarität mit den 35 verfolgten Migranten aus Moria

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Nach Abschluss der Voruntersuchungen wurde der Gerichtstermin für die 35 Migranten, die der Teilnahme an einem Protest vom 18. Juli 2017 im Internierungslager Moria bezichtigt werden, auf den 20. April 2018 im gemischten Schwurgericht auf Chios festgelegt.

Ein paar Worte zu den Geschehnissen des 17. Juli

Nachdem sich Migranten schon seit Monaten organisiert hatten, um gegen die Eindämmungspolitik, die die Mehrheit der Asylsuchenden während der langen und oft verzögerten Bearbeitung ihrer Asylanträge auf den griechischen Inseln inhaftiert hält zu protestieren, kündigte  am 17. Juli eine Gruppe Menschen meist afrikanischer Herkunft an, dass sie von nun an dauerhaft und wiederholt protestieren würden. Als einen weiteren Grund gaben sie die erbärmlichen Bedingungen an, unter denen sie im Internierungslager Moria leben müssen.Der Protest war der Höhepunkt einer Reihe von kleineren, heftigeren und spontanen Protesten, die sowohl in Moria, als auch in der Stadt Mytilini stattfanden. Einigen der Migranten, die sich der repressiven Politik des Staates widersetzten, wurde von der Polizei gedroht, dass sie bald herausfinden würden „wer der Boss im Internierungslager“ ist, woraufhin NGO Mitarbeiter sie drängten, die Proteste zu beenden.

Am Dienstag, den 18.07, während einer Sitzblockade vor dem Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO), die die Mitarbeiter dazu veranlasste das Gebäude zu verlassen, erklärten die Behörden die protestierenden Migranten selbst als verantwortlich für die Verzögerungen und spielten somit eine Gruppe anderer Migranten gegen sie aus. Daraufhin verließen die protestierenden Migranten das Internierungslager und blockierten die Hauptstraße. Während sie vor dem Internierungslager Parolen riefen, begannen Polizeikräfte innerhalb und außerhalb des Lagers sie mit Steinen, Tränengas und Blendgranaten anzugreifen. Die Migranten reagierten darauf, indem sie ebenfalls mit Steinen warfen und kleine Feuer gegen die freigesetzten Chemikalien entfachten.

Einige Zeit nach Beendigung des Konflikts, als sich die Zustände innerhalb des Internierungslagers wieder normalisiert hatten, starteten Polizeikräfte eine Säuberungsaktion im Lager selbst. Die Migranten sahen sich der Gewalt der Bereitschaftspolizei ausgesetzt, die Hauscontainer stürmte und willkürlich auf jeden, der ihnen in die Quere kam, einschlug. Schließlich verhaftete sie 35 beliebige Migranten, wobei sie es auf Menschen afrikanischer Herkunft abgesehen hatten und Hautfarbe das einzige Kriterium zu sein schien. Die Verhafteten wurden zur zentralen Polizeibehörde von Lesbos gebracht, wo sie ohne medizinische Hilfe festgehalten wurden, obwohl viele von ihnen unter schweren Verletzungen litten. Nur einer der Verhafteten wurde mit dem Krankenwagen vom Internierungslager direkt ins Krankenhaus gebracht, da er aufgrund eines mörderischen Schlags ins Genick das Bewusstsein verloren hatte. Im darauffolgenden Monat machten Gerüchte über zusätzliche Verhaftungen die Runde. Aus Angst zur Zielscheibe zu werden, verließen viele der eingeschlossenen Migranten ihre Zelte und Container. Die Terrorisierung der Polizei kreierte eine Atmosphäre der Passivität und ein Gefühl der Ausweglosigkeit unter den Migranten.

Die Strafverfolgungsdaten

Verängstigt und schwer verletzt wurden die 35 Angeklagten dem Ermittlungsbeamten vorgeführt, der sie schweren Straftaten, insbesondere „lebensbedrohlicher Brandstiftung“ bezichtigte. Im Falle einer Verurteilung könnte dies viele Jahre Haft und zusätzlich den Ausschluss vom Asylverfahren für die Migranten bedeuten. Die insgesamt vier Anklagepunkte lauten im Einzelnen wie folgt:

  1. Vorsätzliche, gemeinschaftliche Brandstiftung, wobei Gefährdung für Personen entstehen kann.
  2. Gemeinschaftliche, mehrfache gefährliche Körperverletzung zum Schaden von Polizei- und Feurwehroffizieren, versucht und ausgeführt.
  3. Gemeinschaftliche und mehrfache Sachbeschädigung eines Objekts, das einem gemeinsamen Nutzen dient, ebenfalls ausgeführt durch Brandstiftung.
  4. Widerstand mehrerer Personen, die maskiert waren und potenziell gefährliche Gegenstände mit sich trugen.

Für 30 der Angeklagten ordnete das Gericht eine Untersuchungshaft an, während für die übrigen 5 (der Schwerverletzte und 4 weitere Migranten, die vom Gericht anderthalb Monate lang keinen Dolmetscher gestellt kriegten) einschränkende Aufenthaltsanordnungen auf der Insel und zweimonatliche Erscheinung auf der Polizeibehörde anberaumt wurde.

Von den 30 Häftlingen sind 10 im Gefängnis auf der Insel Chios, 13 in Korydallos (Athen), 6 in der Jugendvollzugsanstalt in Avlona (Attica) und einer wurde von Avlona ins Malandrino Gefängnis (Zentral-Griechenland) überführt. Die Aufteilung der Gefangenen zieht ernste Folgen nach sich, da ihr Gefängnisaufenthalt fernab von ihren Anwälten und Freunden das Gefühl der Isolation und Unsicherheit verstärkt und gleichzeitig die Vorbereitung auf die Gerichtsverhandlung erheblich erschwert. Diese Vorgehensweise ist nicht unüblich und wurde zuvor sowohl bei politischen Gefangenen, als auch in einem ähnlichen Fall von acht verfolgten Migranten aus Petrou Ralli gehandhabt.

Die Verteidigung der Angeklagten wurde anfänglich von Anwälten übernommen, die in NGOs auf der Insel tätig waren. Als der Fall größere Aufmerksamkeit gewann, schienen plötzlich immer mehr NGOs dazu bereit, einige der Gerichtsverhandlungen zu übernehmen. Dennoch gaben die NGOs Solidarity Now, Metadrasi und Synparxis Lesbos nur wenige Tage vor Bekanntmachung des Datums der Gerichtsverhandlung kund, dass sie sich aus dem Prozess zurückziehen werden und ihre Klienten somit neue Anwälte finden müssen. Dies erschwerte die ohnehin schon problematische Situation beträchtlich. Infolgedessen werden 9 der angeklagten Migranten nun von Anwälten von Solidaritätsgruppen vor Gericht vertreten.

Die Rolle, die die Justizbehörde bei Aufstandsbekämpfungen spielt, wird besonders in der Ortswahl für das Gerichtsverfahren deutlich. Die Verlegung des Verfahrens nach Chios widerspricht eigens dem Entscheid des Gerichts der einschränkenden Aufenthaltsanordnung, die 5 der Angeklagten auferlegt wurde. Obwohl die Richter von der finanziellen Schwäche der 5 Angeklagten aus Moria wissen, wird das Verfahren auf Chios stattfinden und sich voraussichtlich über mehrere Tage hinweg erstrecken, wodurch unüberwindbare Aufenthaltskosten, zusätzlich zu den ohnehin schon anfallenden Reisekosten, entstehen werden. Zudem führt diese Entscheidung zu ernsthaften Einschränkungen bezüglich der Anwesenheit von Zeugen in ihrer Verteidigung. Da die Geschehnisse im Internierungslager Moria stattgefunden haben, befinden sich die Augenzeugen, meist Migranten mit administrativen Einschränkungen, auf Lesbos und haben somit nicht die Möglichkeit die Insel zu verlassen. Das Gleiche gilt für viele ortsansässige Zeugen. Aufgrund des sehr eingeschränkten Verkehrs zwischen den beiden Inseln haben sie keine Möglichkeit täglich zu pendeln und müssen infolgedessen ihre Arbeit für unbestimmte Zeit und zu einem hohe Preis aufgeben, falls sie aussagen wollen. Die scheinbar unschuldige Wahl des Ortes fungiert als Vorwand für die vorsätzlich rachsüchtige Haltung der Justizbehörden gegenüber den verfolgten Migranten und resultiert in der folgenschweren Beseitigung wichtiger Zeugenaussagen.

Zur Anti-Migrationspolitik

Während die globalen, geopolitischen Auseinandersetzungen ohne Anzeichen auf ein baldiges Ende andauern, der wirtschaftliche Expansionismus fortschreitet und autoritäre und fundamentalistische Regierungen an allen Ecken und Enden auftauchen, verschärft die Festung Europa ihren militärpolizeilichen Umgang mit Migranten. Möglicherweise besser organisiert als je zuvor, nimmt die Entscheidung für die Schaffung von Ausnahmezonen an den europäischen Grenzen Gestalt an; Zonen in denen all diejenigen, die auf ihren Durchreisen nicht ums Leben gekommen sind, aufgehalten werden und unter schonungsloser Erniedrigung leiden müssen. Anhand eines Verfahrens kontinuierlicher, menschenverachtender Degradierung werden die Migranten dann als „erwünscht“ oder „unerwünscht“ eingestuft.  Die Erwünschten werden einerseits als erforderliche, neue Arbeitskräfte Europas dienen und andererseits das Alibi für die tödliche Anti-Migrationspolitik liefern. Der Rest rutscht zwangsläufig in die Kriminalität ab, da ihre einzige, tragfähige Möglichkeit ist ohne Dokumente in das Innere Europas vorzudringen, woraufhin sie als billige Arbeitskraft ausgebeutet werden, die für die Reproduktion der Machtstrukturen in Form von lokalem und globalem Kapital unerlässlich ist. Die andere Möglichkeit ist Abschiebung in die Länder aus denen sie zuvor geflohen sind, oder in Drittländer.

Darüber hinaus sind Migrantengemeinschaften zum neuen „inneren Feind“ geworden. Die Medien fördern die Konstruktion einer bedrohten Realität, die die Existenz eines totalitären Systems „gesellschaftlich notwendig“ macht. Migranten werden als biologisch und kulturell minderwertig oder als gesundheitsschädigende Krankheitserreger dargestellt und zugleich an Orten ohne sanitäre Anlagen untergebracht. Anhand einer militärischen Rhetorik werden Migranten als Eindringlinge repräsentiert, um so die Positionierung griechischer und europäischer Armeekräfte an den Grenzen zu rechtfertigen und als Verteidigung der Festung Europas darzustellen. In immer mehr Teilen Europas wird der „Ausnahmezustand“ ausgerufen. Eine Überzeugung, die zugleich aus nationalem Zusammenhalt entsteht und ihn hervorruft und unabdingbar für die kontinuierliche und intensivierte Politik der Entwürdigung des „unteren Endes“ der Gesellschaft ist.

Gleichwohl bedeutet der „Krieg gegen Migranten“ Geld. Der Wirtschaftszweig, der sich rund um die Verwaltung der Migrantengesellschaften entwickelt hat, ist nicht zu unterschätzen. Finanzmittel werden weiterhin, entweder mittels militärischer Ausrüstung für die Absicherung und Überwachung der Grenzen oder durch das Humankapital, das dank der weiterverbreiteten Prinzipien des militärischen Humanismus eintrifft, reproduziert.

In diesem Zusammenhang wurde Lesbos zum zweiten Mal in seiner jüngsten Geschichte als Hauptgebiet für die Umsetzung der Anti-Migrationspolitik an der Grenze der sogenannten „östlichen Mittelmeerroute“ auserwählt. Wir sind zu Zeugen der Entwicklung neuer Militärpolizeikräfte und unterschiedlicher Arten von Internierungsanstalten, sowie der Konstruktion einer gesellschaftlichen Gleichgültigkeit als Bedingung für die Zustimmung zu der sich entfaltenden Todespolitik, geworden. Eine Politik, die dutzende Tote, die an den Ufern der Insel angespült wurden und zusätzlich 14 Tote in den Internierungsanstalten selbst zu verantworten hat. Der Schatten des Totalitarismus hat sich über einen Großteil des Insellebens gelegt und zeigt nur einige wenige Risse, hervorgebracht durch den Widerstand der Migranten, aber auch durch Teile einer weitreichenden und internationalen Gegenbewegung, die kontinuierlich aktiv ist. Diese Freiräume des Widerstands werden im Keim erstickt, indem die Migranten, die sich weiterhin widersetzen, terrorisiert und von denjenigen isoliert werden, die solidarisch zu ihnen stehen.

Solidarität aus jedem nur erdenklichen Grund 

Bei der Entscheidung, die 35 verfolgten Migranten zu unterstützen, geht es weder um Unschuldskriterien, noch ist sie kennzeichnend für einen eindimensionalen Kampf gegen Rassismus. Ihre Verfolgung kann nur als eine andere Form der Aufstandsbekämpfung verstanden werden, die von den vorherigen Regierungen etabliert und jetzt von der linken Regierung SYRIZA realisiert wird. Der augenscheinliche Niedergang der Sozial- und Klassenbewegungen der letzten Jahre unter der linken Regierung weist darauf hin, dass die Aggression gegenüber der unteren Gesellschaftsschicht einen dauerhaften und endgültigen Charakter annimmt. Eine Unmenge an Unterdrückungstaktiken polizeilicher, gerichtlicher, administrativer und wirtschaftlicher Art wird gegen diejenigen eingesetzt, die sich für einen anhaltenden und emanzipierten Widerstand entschieden haben.

Verschärfte Militarisierung der Polizeikräfte. Schaffung von Ausnahmezonen, wie die Konzentrationslager für Migranten. Umgestaltung des Strafvollzugs und Angriffe auf protestierende Gefangene. Verwendung von Geldstrafen als Erpressungsmethode, so wie im Fall der Kriegsdienstverweigerer. Entstehung expliziter Straftatbestände für diejenigen, die sich gegen Aufenthaltsversteigerungen wehren. Strafrechtliche Verfolgung von Gewerkschaftsbewegungen. Umweltzerstörung und Verfolgung derjenigen, die sich widersetzen. All diese Formen von Repression sind Aspekte eben jenes staatskapitalistischen Angriffs auf die unterste Gesellschaftsschicht.

Angriffe, die die traditionellen Grenzen der Nationalstaaten übersteigen. Dank einer Neuauslegung der rechtlichen Rahmenbedingungen wird der Versuch transnationaler Zusammenarbeit mit Blick auf die Widerstandsbekämpfung zunehmend intensiver. Die Errichtung europäischer militärischer und polizeilicher Sicherheitskräfte, transnationale, rechtliche Zusammenarbeit und die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Politik im Bereich des Bevölkerungsmanagements sind Teil einer neuen Realität. Aber Antworten werden auf allen Ebenen gegeben sein. Ob es sich um den Aufstand gegen Nationalismus, staatliche Grausamkeiten oder die Ausbeutung des Kapitals handelt, die Widerstandsbewegungen der Gesellschaft entwickeln ihre eigenen, spezifischen Proteste (zum Beispiel der G20 in Hamburg, die Antifaschistische Balkan Demo in Thessaloniki oder die No Border Bewegung). Widerstand geht ebenfalls über Grenzen, Staaten, Nationen und Nationalismen hinaus.

Die Gerichtsverhandlung der 35 Migranten kann nur als Prozess gegen alle Teile der Gesellschaft betrachtet werden, die gegen die andauernde Entwürdigung und Unterdrückung ihres Lebens kämpfen.

Das Verfahren wird vorsätzlich in einem schwarzen Loch, losgelöst von Raum und Zeit, abgehalten und schränkt somit jegliche Möglichkeit zur Solidarität ein. Aus genau diesem Grund ist es dringender den je, ein weiteres Beispiel staatlicher Willkür gerichtet gegen eine der meist gefährdeten sozialen Gruppen anzuprangern.

Wir rufen Individuen, Gruppen und Organisationen zu solidarischen Aktionen auf. Um der Entscheidung der Justizbehörden, das Gerichtsverfahren auf die Insel Chios zu verlegen und somit auszulöschen, entgegen zu wirken, müssen wir und Kameraden innerhalb Griechenlands und darüber hinaus, die Aufmerksamkeit auf den Prozess zurücklenken.

Der Twitteraccount @freethemoria35 und #freethemoria35 wurde zum Zweck der Solidaritätskampagne eingerichtet, wohingegen die autonomen Medien für genauere Informationen und Updates genutzt werden.

Solidaritätsversammlung für die 35 verfolgten Migranten aus Moria 

#freethemoria35

 

 

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